Interview mit Andrea Stolte

Interview mit Andrea Stolte

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Der Artikel „INTERVIEW MIT ANDREA STOLTE – Es ist für uns alle gemeinsam wichtig, dem Thema Gewalt etwas entgegenzusetzen“ erschien in der EN-Aktuell 02/20. In der Zeitschrift ist nur ein gekürzter Teil des Interviews zu lesen. Das komplette, ungekürzte Interview finden Sie hier – zum Anschauen, Anhören oder Lesen.

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Es ist für uns alle gemeinsam wichtig, dem Thema Gewalt etwas entgegenzusetzen

Frau Andrea Stolte, wir haben uns heute verabredet, um über das Thema Gewalt gegen Frauen zu sprechen. Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) benennt Gewalt als eines der größten Gesundheitsrisiken für Frauen. Ist das auch in Deutschland so? Wie viele Frauen müssen Gewalt oder sexuellen Missbrauch hier in Deutschland erleiden?
Die Weltgesundheitsorganisation hat diese Zahl ja weltweit erhoben. Tatsächlich ist es so, dass auch in Deutschland, und das denken viele Menschen ja nicht, jede dritte bis vierte Frau Gewalt in ihrem Leben und jede vierte Frau Gewalt in ihrer Partnerschaft im Lebensverlauf erlebt. Viele Menschen denken, das passiert bei uns in Deutschland nicht. Das stimmt nicht. Auch in Deutschland gibt es sehr viele Frauen, die von Gewalt betroffen sind. Daher stützen wir uns, wenn wir über dieses Thema sprechen, genau auf diese Zahlen. Um Ihre Frage zu beantworten: ja, Frauen in Deutschland sind ebenfalls sehr häufig von Gewalt betroffen. Und das Thema der WHO, der Weltgesundheitsorganisation, ist: Gewalt macht Frauen krank. Das ist das große Thema. Vielleicht noch einmal ein Hinweis. Es geht nicht nur um Misshandlung wie Schlagen, diese typischen blauen Augen, diese sichtbaren Misshandlungen, bei dem ja ganz viele Menschen sofort ein Bild zu haben. Gerade und insbesondere die psychischen Beleidigungen, Demütigungen und Herabwürdigungen haben eine große krankmachende Wirkung auf das Leben von Frauen und sehr viele spätere Gesundheitsfolgen. Es ist tatsächlich ein Thema und ich finde es sehr schön, dass Sie das sofort ansprechen, gerade auch für den medizinischen Bereich. Vielleicht wissen Sie das. Wir hier von Gesine Intervention haben 2004 ein Netzwerk Gesundheit gegründet, wir sind hier im Ennepe-Ruhr-Kreis sehr gut damit bekannt, aber auch darüber hinaus, wo wir versuchen, den Gesundheitsbereich zu dieser Thematik mit einzubeziehen, weil wir ganz viele brauchen, die sich um das Thema Gewalt und Unterstützung von Frauen und natürlich auch Männern und Kindern kümmern. Und da sind der medizinische Bereich und Ärzte ein ganz wichtiger Kooperations- und Vernetzungspartner.
Wer sind die Täter? Sind das hauptsächlich Fremde oder doch Menschen aus dem privaten Umfeld, die Frauen so etwas antun?
Wir müssen da unterscheiden. In Deutschland heißt das häusliche Gewalt. Das ist ein bisschen irreführend der Begriff. Was ist das schon, häusliche Gewalt? In Deutschland bedeutet das Gewalt in Partnerschaften. Gewalt in Partnerschaften setzt voraus: das sind entweder jetzige oder ehemalige Partner, die Gewalt ausüben. Also von daher ist die Antwort: ja, es sind wirklich Vertraute, gerade in Beziehungen, aber es gibt natürlich auch Gewalterfahrungen in der Kindheit. Dann sprechen wir von Kindesmisshandlung, sexualisierter Gewalt. Da sind es allerdings auch ganz häufig Verwandte, Väter, Brüder, Onkel, Lehrer, je nachdem.
Also Vertrauenspersonen.
Vertrauenspersonen, genau! Vielleicht noch einmal einen Satz zum Zusammenhang zum Thema Gesundheit. Das macht es ja gerade so gesundheitsschädigend. Sie müssen sich das vorstellen, wenn wir als Menschen etwas Schreckliches erleben, ich sage jetzt mal ein Trauma erleben oder einen Unfall, dann ist es so: derjenige, der uns schädigt, je enger diese Person ist, desto negativer ist die Wirkung auf meine Gesundheit. Ich bin erschüttert, noch einmal ganz anders, als wenn es jemand Fremdes ist.
Woher kommt das Gewaltpotential? Wie entsteht Gewalt innerhalb Beziehungen und Familien?
Der Kernpunkt von häuslicher Gewalt hat etwas mit Macht und Kontrolle zu tun. Wir können uns ja fragen, wie unterscheiden wir Gewalt und Streit? Das werde ich ganz häufig gefragt. Was ist noch in Ordnung und wo fängt Gewalt an? Gewalt fängt da an, wenn Beziehungspartner etwas anwenden, wo sie zielgerichtet die andere Person, in diesem Fall ihre Partnerin oder ihre Ex-Partnerin, wiederholt herabwürdigen, um mehr Kontrolle zu haben, um mehr Macht zu haben, um Einfluss zu nehmen.
Das heißt, die sachliche Ebene wurde längst verlassen.
Genau. Mir ist es an dieser Stelle noch einmal wichtig zu sagen. Das Thema häusliche Gewalt hat etwas damit zu tun, dass es in den allermeisten Fällen Gewalt gegen Frauen ist. Ich sage an dieser Stelle ganz deutlich: natürlich gibt es auch Frauen, die gewalttätig sind. Sowohl gegenüber ihren Kindern als auch auf der Straße und ihren Partnern gegenüber. Das gibt es. Trotzdem zeigen die Zahlen, dass es wesentlich mehr männliche Beziehungspartner sind, die gegenüber ihren weiblichen Beziehungspartnerinnen gewalttätig sind. Das zeigt die Statistik eindeutig. Und wie gesagt, es ist nicht so, dass Frauen nie gewalttätig sind, das stimmt natürlich nicht. Und vielleicht noch einmal an dieser Stelle: Männer sind auch sehr von Gewalt betroffen, aber viel häufiger – anders als Frauen – im öffentlichen Raum, auf der Straße. Männer haben häufig Berufe, die sehr gewaltaffin sind, Polizei, Bundeswehr, Rettungsdienst, Feuerwehr. Männer sind sehr von Gewalt betroffen, aber nicht so sehr in ihren Partnerschaften.
Ist häusliche Gewalt ein schleichender Prozess?
In sehr vielen Fällen ist es ein schleichender Prozess. Beziehungen entstehen ja am Anfang durch Zuneigung, manchmal sogar durch Liebe. Hoffentlich häufig durch Liebe. Das ist ja der eigentliche Grund, warum Beziehungen geführt werden. Das ist natürlich schleichend. Wir machen auch Präventionsarbeit an Schulen, mit jungen Menschen, mit Heranwachsenden, mit Mädchen und Jungen, weil es da schon anfängt. Wie bekomme ich eigentlich überhaupt ein Gespür dafür, dass ich merke, hier ist etwas nicht in Ordnung? Ich will ein Beispiel sagen. Wenn ein Junge sagt, ich möchte nicht, dass du dich mit anderen noch triffst, weil ich der Wichtigste für dich sein will. Ich will, dass wir beide ganz alleine sind gegen den Rest der Welt. Das kann Mann und Frau als besonderes Kompliment verstehen, als romantisch. Und zugleich liegt darin ein Warnsignal, wenn das nicht nur so eine Momentaufnahme ist, sondern sich länger etabliert in einer Beziehung, Isolation heißt das dann. Ich bin getrennt von meinen Freundinnen und Freunden, ich soll vielleicht keinen Kontakt mehr zur Familie haben oder was auch immer. Dann ist das ein Warnsignal, wo es dysfunktional wird in einer Beziehung, wo jemand versucht, Kontrolle auszuüben. Es ist gar nicht so leicht, das herauszufinden. Und natürlich haben Sie Recht. Häufig entwickelt sich das, und sie haben gerade zurecht gesagt, er ist nicht immer so. Natürlich sind auch Männer, die in ihren Beziehungen misshandeln und demütigen, nicht nur schlechte Menschen. Außerdem sind diese Beziehungen auch emotional gebunden. Ich sag es mal so: es geht darum, die Beziehung nicht unbedingt zu beenden, sondern die Gewalt zu beenden. Das ist die Aussage. Manchmal muss man dazu den Weg gehen, die Beziehung zu beenden, aber wir hier in der Beratungsstelle beraten Frauen auch dazu, wie kann ich in der Beziehung bleiben und die Gewalt beenden.
Was raten Sie Frauen, wie sie sich verhalten sollen, wenn sie Opfer häuslicher Gewalt werden?
Das ist eine große Frage. Das ist natürlich sehr unterschiedlich. Ich will zwei Pfade benennen. Das eine ist, wir setzen da an, dass wir von der Polizei benachrichtigt werden, wenn es zu einem Vorfall von häuslicher Gewalt mit Polizeieinsatz kommt. Also es kommt zu einem Polizeieinsatz. Irgend jemand ruft die Polizei, entweder das Opfer selbst oder die Kinder oder die Nachbarn. Dann kommt die Polizei und interveniert, das ist deren Aufgabe. Und sie können ja den Täter oder die Täterin wegweisen für zehn Tage. Dann wird das Opfer gefragt, ob es damit einverstanden ist, dass die Daten an uns weitergeleitet werden. Dann nehmen wir mit dem Opfer proaktiv Kontakt auf und fragen nach, ob es Beratungsunterstützung braucht. An dieser Stelle sei gesagt, dass wir das auch für männliche Opfer tun. Wenn die Frau oder das Opfer Beratungsbedarf hat, informieren wir über rechtliche Situationen. Wir informieren, was die Frau tun kann, dass sie sich medizinisch versorgen lassen kann und wie ihr weiterer Weg sein kann, sich zu schützen. Dabei kommt es sehr darauf an, welches Gewaltwiderfahrnis gerade passiert ist. Ist es massive Gewalt? Muss sie vielleicht das Haus verlassen? Möchte sie sich trennen? Hat sie Kinder? Wie kann sie ihre Kinder schützen? Ist der Weg ins Frauenhaus, der richtige? Sollte sie eine Wohnungszuweisung beantragen? Es gibt die Möglichkeit, dass Opfer von häuslicher Gewalt die Familienwohnung zugewiesen bekommen für ein halbes Jahr. Das bedeutet, dass der Misshandler raus muss und das Opfer die Wohnung alleine hat. Es gibt ganz unterschiedliche Antworten darauf. Und es kann sein, dass eine Frau sagt, dass es für sie jetzt ein Anlass gewesen ist, dass sie sich trennen möchte. Dass sie zu uns sagt: ich weiß, das ist jetzt vielleicht das siebte Mal gewesen und ich möchte gerne mit Ihrer Unterstützung den Weg gehen; ich will mich trennen und ich suche mir eine eigene Wohnung. Und ich gehe jetzt zum Beispiel zum Gericht und bitte das Gericht, einem Antrag stattzugeben, dass sich dieser Partner, der massiv gewalttätig war, sich nicht mehr nähern darf. Also es gibt ganz unterschiedliche Antworten darauf.
Wie gehen Sie mit Fällen um, bei denen Sie sehen, da ist Bedarf an Hilfe da, aber das Opfer lässt sich nicht auf die Hilfe ein? Ist es tatsächlich so, dass Sie nur mit den Frauen arbeiten können, die auch bereit sind, diese Hilfe anzunehmen? Ansonsten ist es schwierig für Sie, oder?
Selbstverständlich ist es schwierig. Wir haben keinen Zwangsauftrag und das ist gut so. Wir sind ein Angebot und wir können eine Hand reichen. Wir können eine Tür aufmachen, wir können sagen uns gibt es. Wir können darüber informieren, welche Wege es gibt. Wir können sehr individuell und passgenau mit den jeweiligen Frauen ihre Schritte überlegen. Die Entscheidung über Schritte entscheidet natürlich die Frau. Hilfe zur Selbsthilfe. Und das hatte ich Ihnen gerade schon vorher gesagt: beim Phänomen und beim Thema häusliche Gewalt wird der Fokus sehr auf Frauen und auf die Opfer gelenkt. An der Stelle ist es noch einmal wichtig zu erwähnen, dass Täter, in dem Fall meistens Männer, auch mit in Verantwortung genommen werden können. Sie sollten also mit in Verantwortung genommen werden. Und es wäre wichtig, darauf hinzuweisen, und das tun wir. Wir sind in der glücklichen Lage, hier auch ein Angebot zu haben für gewalttätige Beziehungspartner, die von einer Kollegin von mir beraten werden können, die den Weg aus der Gewalttätigkeit suchen. Entweder in einer Einzel- oder in einer Gruppensituation. Die können ja selber aktiv etwas tun. Also warum sollten nur Frauen etwas tun können, um sich zu schützen? Meine Haltung ist, Männer können viel dafür tun, um aus dieser Gewaltspirale auch selber hinaus zu wollen und bekommen darin Unterstützung, andere Verhaltensweisen zu erlernen.
Wie kann ich als Familienvater, Sohn, Onkel, Freund erkennen, dass eine Frau aus meiner Familie oder Freundeskreis Opfer von Gewalt ist? Und wenn ich es erkenne: wie kann ich helfen?
Eine spannende Frage. Nicht weggucken ist meine erste Antwort. Nicht weggucken, nicht ignorieren, sondern bei Unsicherheit, was ich tun soll, uns gerne anrufen. Wir sind nicht nur für Opfer von häuslicher Gewalt zuständig, sondern wir unterstützen auch Unterstützer und Unterstützerinnen. Das Eigentliche ist tatsächlich, den Betroffenen Hilfe anbieten. Was ich wichtig finde ist, NICHT gemeinsam darüber reden! Also die klassische Situation ist: da ist ein Paar, die ich kenne. Und dann zu sagen, lass uns mal drüber reden. Das ist gefährdend für Opfer von häuslicher Gewalt. Das ist keine gute Idee, sondern besser eine ruhige Minute abwarten und Hilfe anbieten, aber gleichzeitig zu akzeptieren, wenn die Hilfe nicht sofort angenommen wird oder die Frau sich für andere Dinge entscheidet. Manchmal fällt einem das sehr schwer, man will etwas tun, und ich kann nur alle dazu einladen, sich bei uns dann Unterstützung zu holen. Wie kann man das gut aushalten, welche Ideen haben wir noch? Aber die eigentliche Aussage ist, bitte nicht wegschauen! Es ist in unser aller Interesse, es ist für uns alle gemeinsam wichtig, dem Thema Gewalt etwas entgegenzusetzen.
Zu Gewalt an Frauen gehören auch Vergewaltigungen. Ich habe gelesen, dass jede siebte Frau in Deutschland in ihrem Leben mindestens einmal Opfer einer Vergewaltigung wird. Hinzukommt, dass nur 5% der Sexualstraftaten angezeigt werden. Wie kann es sein, dass in Deutschland so viele Frauen vergewaltigt werden, aber nur so wenige Täter angezeigt oder gar verurteilt werden?
Es ist ein großes Thema, was Sie angesprochen haben. Eine große Zahl von Frauen erlebt sexuelle Übergriffe bis zur Vergewaltigung. Ein sehr geringer Prozentsatz der Täter wird überhaupt nur angezeigt und von den angezeigten Tätern wird nur ein winziger Prozentsatz überhaupt verurteilt. Ein Grund, warum wenige angezeigt werden, ist, dass sexuelle Übergriffe, und nicht nur Vergewaltigung, häufig nicht als Straftat oder Gewalt erlebt werden, auch von den Opfern nicht. Ich weiß nicht, ob Sie wissen, dass erst 1997 in Deutschland Vergewaltigung in der Ehe verboten wurde. Es ist unfassbar. Diese Tradition, dass sozusagen sexueller Kontakt, sexueller Verkehr, letztendlich auch erzwungen möglich ist in Partnerschaften, ist noch ein Stück in unserer Gesellschaft virulent. Das ist das Eine. Das andere, gerade in Beziehungen, sind Fragen wie: was ist die Grenze, auf was muss ich mich einlassen? Was ist, wenn mein Partner Sex haben möchte, ich aber nicht? Wie gehe ich damit um? Also dieses Thema ist sehr schwierig in Beziehungen, es wird meistens nicht darüber gesprochen. Auch für Frauen, die davon betroffen sind und das erlebt haben, ist es schwer zu erkennen, dass das, was sie erlebt haben, tatsächlich ein Übergriff oder eine Vergewaltigung gewesen ist. Es ist wesentlich einfacher, bei einen Fremdtäter eine solche Tat als Gewalt zu begreifen, als wenn es der eigene Partner ist. Je näher die Beziehung, desto schwieriger sind die Aktionen, die ich treffen muss. Ein anderes Thema ist: der Wunsch den Täter anzuzeigen kommt gerade bei Vergewaltigungen häufig nicht, weil das Thema Scham und Schuld bei den Opfern sehr groß ist. Was habe ich dazu beigetragen, ist dann häufig die Frage. Wie konnte das passieren, war ich nicht deutlich genug in meinem Nein? Und gerade nach sexuellen Übergriffen in dieser Form von Vergewaltigung ist der Wunsch von Frauen, sich unter die Dusche zu stellen, ganz, ganz groß. Und eben nicht der Gang zur Polizei und eine Anzeige zu schalten. Es müssen ja Spuren gesichert werden, es muss ja bewiesen werden. Da ist der Gang unter die Dusche genau das, was für eine Anzeige eigentlich nicht das Richtige ist. Das ist psychologisch absolut zu verstehen, das Abwaschen wollen. Die Frauen wollen den Schmutz abwaschen. Das ist für eine Anzeige aber natürlich genau das, was nicht gut ist. Darum haben wir hier im Ennepe-Ruhr-Kreis seit einigen Jahren das Thema vertrauliche Spurensicherung. Ich weiß nicht, ob Sie davon schon einmal etwas gehört haben. Ich habe ein Plakat mitgebracht. Da geht es darum, dass Frauen eine Möglichkeit haben, diese Spuren sichern zu lassen in den drei Krankenhäusern hier im Ennepe-Ruhr-Kreis, die eine gynäkologische Ambulanz haben,. Also hier in Schwelm, in Witten und in Herdecke. Und dass diese Spuren vertraulich behandelt werden, dass sie in der Rechtsmedizin gelagert werden, und Frauen sich zehn Jahre lang überlegen können, ob sie, wenn sie sich von dem Schock erholt haben, wenn sie vielleicht Beratung bekommen haben, wenn sie das Geschehene besser verarbeitet haben, sich dann noch einmal in Ruhe überlegen können, vielleicht nach zwei Jahren, und vielleicht auch nach einer Beratung, den Weg über eine Anzeige zu gehen. Und dann bekommt man eine Nummer, das ist codiert, und dann kann man sagen so, diese Spuren sind damals gesichert worden, und die nehm ich jetzt, und diese Anzeige ist dann noch möglich.
Angenommen eine Frau wurde vergewaltigt, ist sich aber noch nicht sicher, ob sie den Täter nennen oder anzeigen möchte. Muss sie befürchten, dass sie von der Polizei, der Frauen-Beratungsstelle oder einem Arzt gedrängt wird, Angaben zum Täter zu machen?
Manche Frauen wissen ja nicht von wem, natürlich gibt es das. Wenn ich von einem Fremdtäter vergewaltigt werde, kann ich ja den Namen nicht sagen, ich kann ihn nur beschreiben. Wenn eine Frau zur Polizei geht, muss die Polizei ermitteln, was passiert ist, denn die Polizei hat einen Ermittlungsauftrag,. Es ist ein Straftatbestand. Und bei einem Straftatbestand muss die Polizei, das ist ja auch richtig so, herausfinden, wie war es. Und dann sollte es zu einer Anklage kommen. Wenn eine Frau sagt, dass sie vergewaltigt wurde, kommt es automatisch zu einer Anzeige. Da führt auch kein Weg daran vorbei. Ob die Frau den Namen des Täters nennt, wenn sie ihn kennt, das ist ihre Entscheidung. Und wenn sie sagt, das ist mein Beziehungspartner, weiß ja die Polizei, wer es getan hat. Beim dem Thema Anzeige und Vergewaltigung gibt es zwei verschiedene Güter. Das eine ist: Vergewaltigung ist eine extreme Straftat. Ich finde, es ist wichtig, dass die Straftäter bestraft werden, dass es zu einer Anzeige kommt, dass es zu einem guten Gerichtsverfahren kommt, bei dem die Opfer auch geschützt sind, bei dem den Opfern nicht zu viel zugemutet wird. Das ist etwas ganz Wichtiges. Und bei dem es eine harte Strafe gegen Vergewaltiger gibt, das finde ich muss in unser aller Interesse sein! Das ist das eine Gut. Und das andere Gut ist, ich weiß als Beraterin, als Leiterin der Frauen-Beratungsstelle, wie schwer es Frauen fällt, diesen Weg über die Polizei und Anzeige zu gehen, weil das eine immense Belastung ist. Und natürlich, man muss sich noch einmal ganz klar machen, wenn die Vergewaltigung in der Ehe oder durch einen Beziehungspartner geschehen ist, dann heißt das ja auch, ich zeige meinen Beziehungspartner an. Das ist ja auch eine heftige und eine sehr weitreichende Entscheidung. Das hat sehr krasse Folgen. Darum sage ich, es gibt zwei Güter, die gegeneinander gehen. Wir als Gesellschaft, finde ich, haben absolut die Aufgabe, dafür zu sorgen, dass Vergewaltigung hart und sehr deutlich bestraft wird. Gleichzeitig kann ich als Beraterin sagen, es gibt für Frauen gute Gründe, diesen Weg nicht zu gehen. Das sind zwei verschiedene Themen, die gleich wirken.
Als Vater einer Tochter und eines Sohnes drängt sich mir auch die Frage auf: wie kann ich meine Kinder schützen, damit sie möglichst niemals eine solch schlimme Erfahrung machen müssen?
Auch das ist eine große Frage. Ich glaube, so eine ganz allgemeine Antwort ist erst einmal, aufmerksam sein. Aufmerksam sein auf Veränderungen, auf Hinweise, die mein Kind mir gibt. Das gilt nicht nur für Eltern, das gilt auch für Pädagogen, Erzieher, Erzieherinnen, Lehrer, Lehrerinnen, also alle, die mit Mädchen und Jungen arbeiten. Kinder erzählen ja auch Geschichten. Natürlich tun sie das, das muss nicht immer wahr sein. Und zugleich ist es wichtig, genau hinzuhören und zu überprüfen, ob da etwas dran sein kann. Das ist das Eine. Das Andere ist, ich finde, dass Eltern sehr aktiv fordern können, dass in Sportvereinen, in Kindertagesstätten, in Kindergärten, in Schulen das Thema Gewaltprävention thematisiert wird. Also, dass Kinder gestärkt werden und dass das Lehrpersonal sensibilisiert wird, dass Trainer in einem Sportverein sozusagen ein Führungszeugnis vorlegen müssen, ob sie nicht vorbestraft sind, und dass sich ein Verein, der Sport für Kinder anbietet, mit dem Thema, wie gehe ich mit Kindern um, wie läuft das mit Gewaltprävention, wie schütze ich Kinder vor sexuellen Übergriffen, auseinandersetzt. Und auch im Kollegium, dass sozusagen das Kollegium gegenseitig aufeinander achtet. Als Eltern können sie das ja sozusagen einbringen in die Institution, um die es geht. Und das Andere ist tatsächlich, ich bin sehr dafür, dass Kinder gestärkt werden in diesem Nein-Sagen. Ich finde aber, dass es die Aufgabe von uns Erwachsenen ist, dafür zu sorgen, dass Kinder sicher und geschützt aufwachsen können. Ich würde die Verantwortung nicht an das Nein-Sagen können von Kindern abgeben.
Was hat es mit der Frage „Ist Luisa hier?“ auf sich?
Die Frage „Ist Luisa hier“ haben wir nicht entwickelt, sondern das ist ein Projekt, das eigentlich aus England gekommen ist und das die Frauen-Beratungsstelle in Münster übernommen hat und verdeutscht hat mit Luisa. Dahinter verbirgt sich im Grunde eine Kampagne, die inzwischen auch in unterschiedlichen Städten angekommen ist, auch hier im Ennepe-Ruhr-Kreis. Und zwar soll es ein bisschen darum gehen, in Kneipen und in Clubs sicher feiern zu können. Ich weiß nicht, ob Sie sich das vorstellen können. Also es gibt einen Club, eine große Kneipe, wo viele hingehen, und gerade in diesem Freizeitbereich gibt es viele Übergriffe, wenn alle etwas enthemmt sind mit Alkohol. Frauen wollen dann nicht eine ganz große Geschichte erzählen, wenn sie von jemanden angetatscht worden sind, sondern es gibt ein Codewort. Das ist die Frage „Ist Luisa hier?“. Mit diesem Codewort geht die Frau an die Theke und das Personal, wenn die mitmachen, ist geschult. Und wenn die Frau dieses Codewort sagt, sorgt die Serviceangestellte oder der Besitzer oder wer auch immer dafür, dass die Frau gut raus kommt. Dann wird sie gefragt, was sie braucht, ob sie nach Hause muss, ob sie den Raum verlassen möchte, ob sie eine Tasche dabei hat, ob ein Taxi gerufen werden soll, ob einer Freundin Bescheid gegeben soll. Es geht sozusagen darum, ein Auge auf sie zu werfen und sie nicht allein zu lassen. Im Grunde ist das ja eine Form von Öffentlichkeitsarbeit, von Sensibilisierung, das ist der Hintergrund. Gerade auch im Freizeitbereich, in dem ganz viel so chillig miteinander gemacht wird, dass da das Thema Übergriffe auch eine Rolle spielt, und wir sozusagen sensibel sein wollen alle miteinander, dass diese Möglichkeit der Übergriffe eingeschränkt wird. Wir haben zum Beispiel Bierdeckel produziert, da steht Luisa drauf, es steht am Eingang der jeweiligen Kneipe oder des Clubs, wir sind dabei. Und es gibt eine Webseite: Luisa-ist-hier.de.
Das erinnert mich an die Aktion Notrufinsel, wo Schüler dann als Zuflucht diese Örtlichkeiten nutzen können.
Genau. Ich finde es nett, dass Sie das gerade gesagt haben mit der Insel. Wir hatten hier, ich glaube vor zwei Jahren, beim Schwelmer Heimatfest, das ist ja auch ein Ort, wo durchaus Übergriffe passieren können, die beteiligten Institutionen, die hier in Schwelm bei Luisa mitmachen, als Insel angeboten. Die waren also schon sensibilisiert für das Thema und wir hatten an alle Schausteller, die beim Schwelmer Heimatfest mitmachen, Informationen ausgegeben. Und wenn denen was auffiel, konnten sie es weitergeben. Die hatten auch eine Schulung, da konnten sie sagen, wenn es hier zu heiß wird und zu eng, dann können sie sich dahin zurückziehen.
Lassen Sie uns auch über das Gesine Netzwerk sprechen. Wofür steht der Name Gesine und worum genau handelt es sich?
Wir sind eigentlich „Frauen helfen Frauen“, das ist ein Verein. Wir haben das Frauenhaus, die Beratungsstelle und wir haben im Jahr 2004 Gesine gegründet. Nicht ich, sondern meine Kollegin Frau Steffens. Und zwar ging es darum, dass das Thema Gewalt im Gesundheitsbereich bisher nicht deutlich und nicht ausreichend genug angekommen war. Ich weiß noch genau, 2004 ist ja nun auch schon länger her, dass Ärzte und Ärztinnen, wenn sie die Dokumentationen machen mussten, also wenn sie die Verletzungsfolgen von häuslicher Gewalt dokumentiert haben, ihren privaten Block genommen haben, auf dem sie Privatrezepte schreiben, und darauf handschriftlich notiert haben, was sie sehen. Zum Beispiel blauer Fleck am rechten Oberkörper. Das war dann das Gutachten, das die Frau hatte. Und wenn sie dann tatsächlich angezeigt hat, wurde das vom gegnerischen Anwalt natürlich auseinander genommen. Wir haben damals, insbesondere Frau Steffens und auch ich, dann gemeinsam überlegt, dass wir den Gesundheitsbereich mehr einbeziehen müssen in unsere Bemühungen, etwas gegen Gewalt gegen Frauen zu tun. Und dann sind wir auf die Idee gekommen und haben gesagt, der Gesundheitsbereich ist ein sehr spezieller Bereich, der braucht ein eigenes Netzwerk. Und so entstand die Grundidee zu Gesine. Gesine heißt „Gewaltintervention im Netzwerk“. Wir haben überlegt, wir wollten ein positiv besetztes Wort nehmen, einen Frauennamen. Und Gewaltintervention im Netzwerk verbirgt sich hinter Gesine. Mir ist das aber nochmal wirklich wichtig zu erwähnen, dass Vernetzung und Kooperation eines der ganz zentralen Themen in unserer Einrichtung und in unseren Projekten ist. Wir sind die Fachfrauen für das Thema Gewalt im Geschlechterverhältnis hier im Ennepe-Ruhr-Kreis, aber wir stemmen das Thema nicht alleine. Wir sind darauf angewiesen, dass wir uns mit anderen Einrichtungen, im Grunde mit der Zivilgesellschaft, vernetzen.
Dann gibt es ja noch den runden Tisch EN gegen häusliche Gewalt, der auch schon 20 Jahre alt ist. Wer setzt sich da gemeinsam an einen Tisch und was wird dann besprochen und geplant?
Das ist sozusagen der Übergang zu einem anderen Netzwerk, der runde Tisch. Wir hatten ja im letzten Dezember das Jubiläum 20 Jahre runder Tisch Arbeit im Ennepe-Ruhr-Kreis zum Thema Gewalt gegen Frauen. Ich sage einmal so, da ist der Gesundheitsbereich eben kaum mit vertreten. Darum haben wir gesagt, wir brauchen ein eigenes Vernetzungsorgan für den Gesundheitsbereich. Im runden Tisch sind unterschiedliche Beratungsstellen vertreten, da ist das Frauenhaus, da ist die Polizei, da sind die Gleichstellungsbeauftragten der unterschiedlichen Kommunen, da ist die Ausländerbehörde, die Jugendämter, also ein sehr breit aufgestelltes Netzwerk, das im Grunde alle Lebensbereiche von Menschen, die mit Institutionen etwas zu tun haben, abdeckt. Ein sehr breites Bündnis.
Frauenberatung, Frauenhaus, Gewaltprävention – das alles kostet ja nicht nur Zeit und Engagement, sondern auch Geld. Wie finanziert sich das alles?
Die Frauenberatung, das Frauenhaus bekommt öffentliche Mittel, einmal vom Land und einmal vom Kreis. Das Gesine Netzwerk bekommt keine öffentliche Förderung. Wir haben immer unterschiedliche Projekte und sind im Moment noch mit einem Teil Kompetenzzentrum Frauen und Gesundheit im Land Nordrhein-Westfalen, wir haben EU-Mittel beantragt für spezielle Projekte, wir haben mit Krankenhäusern etwas zusammen gemacht, da haben wir EU-Mittel bekommen, aber wir haben keine institutionelle Förderung.
Das heißt, Sie schauen mit einem Auge auch gleich immer auf die Förderprogramme, zwangsläufig aufgrund der Wirtschaftlichkeit, so dass Sie auch gezwungen sind, über die Jahre jetzt auch verschiedene Schwerpunkte zu bilden.
Genau, und das, was Sie jetzt gerade sehr auf den Punkt ausgedrückt haben, gilt allerdings auch für die Frauenberatung, weil für die Frauenberatung ist die Finanzierung, die wir haben, nicht ausreichend. Wir bekommen einen Festbetrag vom Land, wir bekommen einen Festbetrag vom Kreis und es bleiben aber noch ziemlich viele Eigenmittel zu erwirtschaften. Von daher geht auch ein Auge immer dahin, wie Sie es ausgedrückt haben, woher bekommen wir weitere Mittel? Das heißt es geht um Spendenakquise, es geht darum, unsere Arbeit anzubieten, wo wir Geld hereinbekommen.
Gibt es eine Möglichkeit für unsere Leserinnen und Leser das Gesine Netzwerk zu unterstützen?
Es gibt mindestens zwei oder drei unterschiedliche Dinge. Das Eine ist, ich habe vorhin von der Zivilgesellschaft gesprochen. Ich glaube, das Allerwichtigste ist, das Thema Gewalt gegen Frauen und Kinder in dem Zusammenhang nicht zu ignorieren. Ich glaube, das ist das Allerwichtigste. Sich zuständig mit fühlen, sich angesprochen fühlen, nicht wegzuschauen, zu sagen, das ist ein Unrecht und sich sozusagen zu positionieren, dass Gewalt gegen Frauen nicht in Ordnung ist. Das wäre, finde ich, die größte Unterstützung. Ich finde tatsächlich das ist eine Aufgabe. Wir sind eine Fachberatungsstelle, natürlich, aber das ist eine Aufgabe der Gesellschaft und jedes einzelnen. Wer ist die Gesellschaft? Das sind wir, das sind eben auch die Leser und Leserinnen der EN Aktuell. Das ist, glaube ich, mein Hauptthema. Ich freue mich über Spenden, natürlich, das ist ganz klar, das ist das Eine, aber das Andere ist ein inhaltliches Thema.
Was hat denn der Job mit Ihnen gemacht? Wie lange sind Sie jetzt im Gesine Netzwerk dabei?
Ich bin seit knapp 30 Jahren in dem Bereich tätig.
Sie haben wahrscheinlich viel gesehen, viel erlebt und viel gehört, macht es Ihnen immer noch Spaß, jeden Morgen hierhin zu kommen?
Absolut. Ich würde die Arbeit nicht tun, wenn ich von der Arbeit nicht überzeugt wäre. Ich bin überhaupt keine, die Dinge ungern tut und dann dabei bleibt. Ich finde, es ist eine sehr wichtige Aufgabe. Wir entwickeln uns ja auch weiter, also gerade Gesine Intervention. Ich sage es noch einmal: wir haben mit einem Frauenhaus angefangen, das Frauenhaus wurde 1992 gegründet, wir haben ein paar Jahre später die Beratungsstelle gegründet, wir haben ein paar Jahre später Gesine gegründet. Wir haben ein paar Jahre später das Programm Toni für Männer (tatorientierte nachhaltige Intervention) gegründet. Was mir am meisten Freude bereitet sind die unterschiedlichen Möglichkeiten, etwas zu bewirken und Gesellschaft zu gestalten.
Zuletzt möchten wir Ihnen eine Frage stellen, die wir allen unseren Interviewgästen stellen: Gibt es einen Ort, einen bestimmte Platz im EN-Kreis, den Sie besonders gerne aufsuchen und an dem Sie Kraft schöpfen und gerne verweilen?
Da ich sehr gerne in der Natur bin, ich wohne selber in Haßlinghausen, liebe ich alles, das grün ist im Ennepe-Ruhr-Kreis. So kann ich das nur sagen. Und ich finde den Ennepe-Ruhr-Kreis sehr grün. Ich freue mich sehr, im Ennepe-Ruhr-Kreis zu wohnen. Ich finde großartig, dass wir so grün und trotzdem Rand Ruhrgebiet sind. Das finde ich eine gute Kombination.

Informationen zum Gesine-Netzwerk finden Sie hier:

Frauen helfen Frauen EN e.V.
Markgrafenstr. 6
58332 Schwelm
Tel 02336 475 9152

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